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Der letzte Pinselstrich bzw. die Utopie von einer Erde, der die Menschen gehören

05. November 2024


Mystik BAum 3

 

Der letzte Pinselstrich bzw. die Utopie von einer Erde, der die Menschen gehören

Trägt jede Utopie bereits den Keim des Unmöglichen und des Scheiterns in sich? Ist das Vollkommene zur Existenz nicht fähig?

Wahrscheinlich wohnt ohnehin jeder Idee bzw. jedem Objekt das inne, was es zerstört oder zerstören kann. So fehlt es der Utopie zweifellos an Realität. Wenn sie einen Ort hätte, an dem sie existieren könnte, verlöre sie das entscheidende Merkmal ihres Wesens.

In Arno Geigers Roman „Reise nach Laredo“ denkt der im Sterben liegende Monarch Karl V., ehemals einer der Mächtigen seiner Zeit, über einen Satz seines Porträtisten Tizian nach: „Fertig sei ein Kunstwerk, wenn man glaubt, einen letzten Pinselstrich machen zu müssen, und es schafft, diesen Pinselstrich zu unterlassen. Der letzte Pinselstrich sei immer verzichtbar. Wer ständig die Notwendigkeit letzter Pinselstriche zu entdecken meine, sei mehr noch als ein schlechter Künstler ein schlechter Mensch. Vollendung existiere nicht, es gebe nur das Aufhören.“[1] Abgesehen davon, dass etwas weniger einen Mehrgewinn an Ausdruckskraft und künstlerischer Meisterschaft bedeuten kann, mag es tatsächlich der Fall sein, dass das Vollkommene so Ehrfurcht gebietend ist, dass man aus Demut, aus Achtung oder auch aus Furcht vor dem das menschliche Leben Transzendierenden den letzten Schritt nicht wagt, den letzten Gedanken nicht zu Ende denkt und die letzte Tat unvollendet lässt. Zu häufig hat es sich nämlich erwiesen, dass derjenige, der einem Ideal bzw. einer vermeintlichen Utopie Realität verleihen will, ein „schlechter Mensch“ ist, weil er dem Menschenfeindlichsten und Inhumansten den Weg bereitet.

Wenn die Utopie zwar denkbar ist, aber nicht realisiert werden darf, weil sie nicht mit der menschlichen Natur vereinbar ist bzw. die Gefahr in sich birgt, trotz bester Intentionen ins Gegenteil verkehrt zu werden, verspielt sie ihre Bedeutung für zukünftige Entwicklungen. Dann bleibt nur ein kleinschrittiges Handeln, ein Pragmatismus des Machbaren, der sich zwar an Vernunft und utilitaristischen Überlegungen orientiert, jedoch das Überschreiten oder das bloße Infragestellen von Grenzen als illegitim verbietet. Transzendenz des Status quo wäre a priori bereits ein unzulässiger intellektueller Schritt, der nur das Scheitern nach sich zöge. Das jedoch wäre nicht nur eine Verarmung des Denkens, sondern käme einer Kapitulation des Menschen vor der Wirklichkeit und ihren Gegebenheiten gleich.

Die Idee der Utopie ist sinnvoll, weil sie als Leitbild und Inspirationsquelle für gesellschaftliche Verbesserungen dienen kann. So zeigen utopische Leitbilder alternative Möglichkeiten auf und bieten eine Richtung für zukünftige Entwicklungen, nämlich für das, was Ernst Bloch in Unterscheidung vom Gegenwärtigen als das „Noch-Nicht“ bezeichnet hat. Sie helfen Menschen und Gesellschaften, über bestehende Strukturen hinauszudenken und sich eine bessere Welt, die noch nicht Wirklichkeit geworden ist, zumindest vorzustellen.

In einer Zeit, die weitgehend immer noch von kapitalistischen Prinzipien bestimmt wird, in der sich wirtschaftliche Leistungsfähigkeit an der Höhe des Bruttosozialprodukts und den Exportchancen bemisst und in der die weltweite Ungleichheit der sozialen Bedingungen weiterhin von regionaler Herkunft, Bildungsangebot bzw. politischem System bestimmt wird, können utopische Vorstellungen das menschliche Bedürfnis nach Hoffnung und positiven Zukunftsaussichten ansprechen und somit ein Ziel andeuten, das Menschen motivieren kann, sich für Veränderung einzusetzen. Da fast alle großen Nationen in der heutigen Welt von sozialen und politischen Gegensätzen zerrissen sind, verweisen nicht dem Zeitgeist unterworfene Leitvorstellungen auf ein kritisches Potential, indem sie ein ideales Bild entwerfen, das Mängel und Ungerechtigkeiten im Hier und Heute, in der Realität aufdeckt. So können sie eine kritische Perspektive bieten und aufzeigen, wo Verbesserung notwendig ist, wo Inspiration für soziale Veränderungen gesucht wird und wo neue Wege und innovative Lösungen für gesellschaftliche Probleme entwickelt werden müssen. Utopien inspirieren damit soziale Bewegungen und politische Visionen, die sich für eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft einsetzen.

Ein Anfang für eine Neuorientierung des menschlichen Denkens könnte ein Leitbild sein, das den Menschen aus seiner anmaßenden und rein selbstbezüglichen Position als Herr der Weltordnung und Mittelpunkt aller Entwicklungslinien herausnimmt, ein Leitbild, das die Grenzen, die Nationalität, Religionszugehörigkeit, Geschlechterrolle, Egoismus usw. setzen, aufbricht, und das zur Erkenntnis führt, dass der Einzelne als Gleicher unter Gleichen in einer Welt, in der Grenzen irrelevant sind, Verantwortung trägt gegenüber dem Ganzen der Schöpfung. Der Mensch weiß sich in der Verantwortung, weil die Welt nicht ihm gehört, sondern weil er der Welt gehört.

Die Vorstellung einer Welt ohne Grenzen hat vielfältige Ursprünge und zieht sich durch verschiedene historische und philosophische Strömungen. Sie taucht in unterschiedlichen Epochen und Kulturen auf, oft als Reaktion auf die Grenzen und Trennungen, die Menschen voneinander isolieren, und auf die Konflikte, die durch nationale, soziale oder wirtschaftliche Grenzen entstehen. Hier seien als wesentliche Quellen dieser Idee einerseits die antike Philosophie und der Stoizismus erwähnt, durch die eine kosmopolitische Ethik propagiert wurde, die alle Menschen als Teil einer größeren Gemeinschaft ansah. Die Vorstellung von kosmopolis – einer „Weltstadt“ oder Weltgemeinschaft – bedeutete, dass alle Menschen Bürger der Welt sind und Unterschiede wie Herkunft oder soziale Stellung unwesentlich sein sollten. Andererseits sind in diesem Zusammenhang die Aufklärung und die Menschenrechte zu nennen: Während der Aufklärung wurde die Idee der universalen Menschenrechte entwickelt, die allen Menschen unabhängig von ihrer Nationalität, Ethnie oder Religion zustehen. Philosophen wie Immanuel Kant argumentierten für eine „weltbürgerliche“ Ordnung, die die Rechte und das Wohl aller Menschen in den Vordergrund stellt.

In dieser Vorstellung einer Welt ohne Grenzen kommt sehr nachdrücklich, aber im vollen Bewusstsein des utopischen Gehalts der Wunsch nach Frieden, Gleichheit und einem globalen Zusammenhalt zum Ausdruck, der viele der Probleme lösen könnte, die durch nationalistische und territoriale Abgrenzungen entstehen. Der Verzicht auf Grenzen, der natürlich viele Fragen nach der Gewährleistung von Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, materiellem Wohlstand usw. aufwirft, versteht sich aber als deutliche Gegenposition zu allen Forderungen nach Abschottung, Selbstisolation, Protektionismus, Hegemoniestreben, Ausgrenzung, Remigration und wie immer die Schlagworte der Feinde der offenen Welt lauten. Das Ziel lautet Menschlichkeit und Gerechtigkeit in Freiheit.

Der damit verbundene Gedanke „Die Erde gehört nicht den Menschen, sondern die Menschen der Erde“ wird oft dem Häuptling Seattle (1786-1866) zugeschrieben, einem Anführer der amerikanischen Ureinwohner vom Stamm der Suquamish. Diese Aussage stammt aus einer Rede, die Seattle angeblich um 1854 gehalten haben soll, als Antwort auf ein Angebot des US-Präsidenten Franklin Pierce, Land von den Ureinwohnern zu kaufen. Im Kern besagt diese Idee, dass die Menschen nur Teil der Natur sind und nicht das Recht haben, sie zu besitzen oder auszubeuten. Stattdessen sind sie für die Erde verantwortlich und sollten sie umsichtig und achtsam behandeln, da sie von ihr abhängig sind. Der Satz, selbst wenn er nicht authentisch sein sollte, behält somit seine Wahrheit und drückt eine tiefe Verbundenheit mit der Natur aus; er erweist dem Prinzip der Nachhaltigkeit seine Achtung: Die Erde und ihre Ressourcen sollten respektvoll und pfleglich genutzt werden, um sie auch für zukünftige Generationen zu bewahren.

Entgegen Tizian muss man ein flammendes Plädoyer formulieren, den letzten Pinselstrich doch zu setzen. Der letzte Pinselstrich wird nie derjenige sein, der die Vollkommenheit herstellt und zur Vollendung führt. Aber er kann dazu verhelfen, dem Besseren ein Stück näher zu kommen bzw. dem utopischen Gehalt einer Idee mehr Wirklichkeit zu verleihen. Denn die Utopie schafft einen Raum, in dem unterschiedliche Konzepte von Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Wohlstand erforscht und theoretisch erprobt werden können, ohne durch die Grenzen des Bestehenden eingeschränkt zu sein. Das vermeintlich Unrealistische regt dazu an, über das, was besser sein könnte, nachzudenken. Erst dann scheint das auf, was Ernst Bloch ganz am Ende seines bedeutenden Werkes über die Hoffnung in die schönen Sätze gegossen hat: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“[2]

Hans-Jürgen Blanke

[1] Geiger, Arno: Reise nach Laredo, München 2024.

[2] Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Dritter Band, Frankfurt am Main 81982, S. 1628.

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