Die Rücknahme der Schöpfung
Wie in Thomas Manns großem Roman „Doktor Faustus“ Beethovens Neunte Symphonie durch einen dämonisch infizierten Künstler „zurückgenommen“ wird, was einer Art „Negation“ oder „Entwertung“ des Humanen gleichkommt, so wird in der Klimakatastrophe der ursprüngliche Gedanke der Schöpfung, die auf Bewahrung angelegt ist, „zurückgenommen“.
Nos et flumina inficimus et rerum naturae elementa, ipsumque quo vivitur in perniciem vertimus.1 |
Wir verseuchen sowohl die Flüsse als auch die Elemente der Natur und verwandeln sogar das, wovon wir leben, in Verderben. |
Persequimur omnes eius fibras vivimusque super excavatam, mirantes dehiscere aliquando aut intremescere illam, ceu vero non hoc in dignatione sacrae parentis exprimi possit. Imus in viscera et in sede manium opes quaerimus, tamquam parum benigna fertilique, qua calcatur.2 |
Wir durchforschen alle Adern [des Erdinneren] und leben auf ihr dort, wo sie ausgehöhlt ist, wobei wir uns noch wundern, daß sie zuweilen birst oder zittert, wie wenn dies nicht in Wahrheit aus dem Unwillen der heiligen Mutter (Erde) gedeutet werden könnte. Wir dringen in ihre Eingeweide und suchen am Sitz der Schatten nach Schätzen, gleichsam als wäre sie dort, wo sie betreten wird, nicht genügend gütig und fruchtbar. |
Ilia nos peremunt,ilia nos ad inferos agunt, quae occultavit atque demersit, ilia, quae non nascuntur repente, ut mens ad inane evolans reputet, quae deinde futura sit finis omnibus saeculis exhauriendi earn, quo usque penetratura avaritia. quam innocens, quam beata, immo vero etiam delicata esset vita, si nihil aliunde quam supra terras concupisceret, breviterque, nisi quod secum est.3 |
(Nur) das vernichtet uns, (nur) das treibt uns zur Unterwelt, was sie verborgen und versenkt hat, (nur) das, was erst allmählich entsteht, so daß der ins Leere emporstrebende Geist bedenken mag, was für ein Ende ihre Ausbeutung in all den Jahrhunderten finden und bis wohin die Habgier noch vordringen soll. Wie unschuldig, wie glücklich, ja sogar wie köstlich wäre das Leben, wenn (die Menschheit) nichts anderswoher als über der Erde zur Erfüllung ihrer Wünsche suchte, kurz, nur das, was sie umgibt. (HN 33,3) |
At Hercule homini plurima ex homine sunt mala.4 | Doch beim Herkules, die meisten Übel erwachsen dem Menschen vom Menschen. |
Wir alle kennen die (Fernseh-)Bilder: schmelzende Polkappen, schwindende Gletscher, wasserarme Flüsse und versiegte Bäche, ausgedörrte Felder, abgeholzte Regenwälder, gleichzeitig steigende Meeresspiegel, auftauende Permafrostböden, wodurch landwirtschaftliche Nutzflächen verloren gehen und riesige Mengen an Kohlenstoff freigesetzt werden, so dass sich die Klimaerwärmung weiter beschleunigt und Extremwetterlagen – etwa in Form von Überschwemmungskatastrophen – rapide zunehmen. Hitzewellen führen zu Dürren und weiteren Zerstörungen durch Waldbrände. Der „globale Irrsinn“, wie ihn schon vor 2000 Jahren der antike Autor C. Plinius Secundus d.Ä. eindrucksvoll beschreibt, zeigt sich nicht nur in der rücksichtslosen Ausbeutung der Natur, sondern ebenfalls in ihrem Missbrauch durch Zumüllung und Ablagerung aller Arten von Unrat und der Relikte der Wohlstandsgesellschaft. Weltweit beobachten wir die Folgen der Umweltbelastung bzw. -verschmutzung und des Klimawandels, die erhebliche Konsequenzen nicht nur für die Gesundheit der Menschen und für das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, sondern auch für die soziale Stabilität in sich bergen. Letzteres könnte in einen erbarmungslosen Kampf ums Überleben münden. Obwohl die erste internationale Konferenz für Naturschutz schon 1913 in Bern stattfand, hat sich der Zustand der Umwelt global immer weiter verschlechtert. Der Mensch ist dabei seine Lebensgrundlagen zu „ermorden“; der Ökocid ist nicht mehr bloß ein Schreckbild überdrehter Phantasten.
Die Ursachen für die sich abzeichnenden Katastrophen in Natur und Klima mögen vielfältig sein. Ihre tiefsten Gründe liegen in der menschlichen Natur, in der Ambivalenz von grenzenlosem Streben und selbstsüchtiger Bereicherung. Diese Ambivalenz hatte bereits der antike Dramatiker Sophokles in der „Antigone“ (442 v. Chr.) herausgestellt: Im ersten Standlied des Chores heißt es: „Vielgestaltig ist das Ungeheure, und nichts ist ungeheurer als der Mensch“.5 Die Größe des Menschen wird an Hand seiner instrumentellen Vernunft demonstriert. Durch das Zweck-Mittel-Denken unterwirft er sich die Erde, tritt er die Herrschaft über alle Geschöpfe an und erwirbt die Kunst des Denkens, der Sprache, der politischen Gestaltung. Als seine Grenze werden seine Endlichkeit bzw. Vergänglichkeit verstanden. Aber seine Gefährdung besteht in seiner Hybris, im Verkennen der irdisch-menschlichen Grenzen: „Als klug anwendbar besitzt er die Kunst der Erfindung über alles Erwarten, und er schreitet bald zum Schlechten, bald zum Guten.“ (Vers. 364ff). Zweifellos zeigen sich im Willen zur Beherrschung der Natur der staunenerregende Erfindungsreichtum des Menschen, den natürliche Grenzen kaum aufzuhalten vermögen, aber auch sein furchtbares und gefährliches Wesen, das auch angesichts erkennbarer Zerstörung und Verluste den einmal eingeschlagenen Weg beibehält. Dies bestätigt auch Plinius, wenn er den Menschen als Urheber von Umweltzerstörung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen kritisiert.
Die Herrschaft der Menschen über die Erde scheint nach biblischem Verständnis durch einen göttlichen Auftrag legitimiert: „Gott segnete sie (Mann und Frau) und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehret euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen“ (Gen 1,28). Nur als Scheinproblem stellt sich hier die Frage, ob in dem Herrschaftsauftrag gleichzeitig eine Rücknahme der Schöpfung begründet liegt. Dann müsste das Genesis-Zitat als Auftrag zum Ökocid, zur Vernichtung der eigenen Lebensgrundlagen interpretiert werden. Die naive Vorstellung einer total unterjochten und missbrauchten Schöpfung, die der Willkür des Menschen ausgeliefert ist, entspricht aber nicht einem guten Willen und ist nicht abzuleiten aus einem Gottesverständnis, das von einem liebenden Vater und verantwortungsvollen Hirten gegenüber dem ihm anvertrauten Werk ausgeht. Herrschaft bzw. Macht haben im Kern eine bewahrende und lebensfördernde Intention. Legitime Herrschaft rekurriert auf die Vorstellung von der Verantwortung des Herrschers gegenüber der ihm übergebenen und anvertrauten Ordnung. Legitimität bildet somit die Rechtfertigungsgrundlage der Herrschaft, gewährt legitime Kompetenzen und setzt dem legitimen Geltungsbereich zugleich innere Schranken, die in der Lebensfähigkeit und im Wohlergehen der Beherrschten bestehen.
Die wiederholt gestellte Frage nach der Schuld und nach dem Urheber der ökologischen Katastrophe erweist sich als irrelevant, da die Umweltzerstörung eine Geschichte der Entwicklung der Menschheit in die Neuzeit ist, spätestens mit dem Sieg der modernen Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert einsetzend und sich im 18. und 19. Jahrhundert zur industriellen Revolution beschleunigend. Der Mensch wurde durch Rationalisierung und moderne Naturwissenschaft in die Lage versetzt, das dominium terrae, die Herrschaft über die Natur anzutreten. Diese Herrschaft hat wiederum einen ambivalenten Charakter angenommen, da sie zum einen zur Befreiung aus natürlichen Abhängigkeiten führte - man denke an die Möglichkeiten der modernen Medizin -, zum anderen aber in ihrer Entartung als Unterdrückung und als Gewalt die Abhängigkeiten von nicht-natürlichen Bedingungen (Technik) einschloss. In diesem Prozess einer sich ständig erweiternden und verselbständigenden Machtkontrolle über die Natur hat der Mensch aus dem Auge verloren, dass er selbst Teil der Schöpfung und damit Teil der Natur ist. Das verlangt ein Naturverständnis, das den Menschen nicht in falscher Weise als selbstherrlichen Akteur in den Mittelpunkt stellt, der die Natur bloß als Objekt betrachtet, menschliche Fähigkeiten zur Erhaltung natürlichen Lebens überschätzt und den Eigenwert der Natur nicht wahrnimmt. Der Mensch stammt aus der Natur und bleibt bis zu seinem Ende den natürlichen Grundlagen verhaftet. Immer wenn es um das Verhältnis des Menschen zur Natur geht, geht es auch um das Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Der Pflicht zur Selbsterhaltung entspricht die Pflicht zur treuhänderischen Bewahrung der Natur.
Die Gefahr der vollkommenen Rücknahme der Schöpfung und deren Mutation in ein lebloses Ding ist beträchtlich. Zugleich muss man als Dilemma die Widersprüchlichkeit der notwendigen Anstrengungen konstatieren: Wiederherstellung und Bewahrung der Natur als Lebensgrundlage, zugleich Anerkennung der Wissenschaften und der Technik als Teil der menschlichen Lebenswelt. Im Sinne einer romantischen Naturmetaphysik, d.h. eines naturverbundenen Lebens, ist es nicht mehr möglich, sich nahtlos in die Natur einzufügen. Unsere Zukunft wird bestimmt von der Ambivalenz von Hoffnung auf die menschliche Vernunft, auch die instrumentelle Vernunft, und auf Rettung vor der ökologischen Katastrophe und der Erfahrung von unwiederbringlichen Verlusten durch die vom Menschen freigesetzten Kräften. Die Menschheit steht am Scheideweg: Schafft sie es, den Gedanken des Fortschritts in humane Dimensionen einzubetten? Oder werden wirtschaftlicher Egoismus, Wachstumswahn, der Supremat des technologischen über das humane Denken die notwendige Selbstbeschränkung unmöglich machen. Plinius Frage, „was für ein Ende die Ausbeutung [der Natur] in all den Jahrhunderten finden und bis wohin die Habgier noch vordringen soll“, bleibt aktuell. Die Verhinderung der ökologischen Katastrophe ist eine Menschheitsaufgabe wie die Herstellung und Bewahrung des Friedens, wie die Verringerung des sozialen Elends, wie die Bekämpfung einer Pandemie. Die Menschheit wird dieser Aufgabe erst gerecht werden, wenn jeder einzelne seinen Teil dazu beiträgt und die Verantwortung gegenüber Schöpfung über Eigeninteressen stellt.
Hans-Jürgen Blanke
Quellenangaben
1 Alle lateinischen Zitate stammen mit der Übersetzung aus C. Plinius Secundus d.Ä.: Naturalis Historiae Libri XXXVII [= NH], herausgegeben und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, Artemis & Winkler, München/Zürich 21997ff; hier: NH 18,1.
2 NH 33,1.
3 NH 33,3.
4 NH 7,5.
5 Sophokles: Antigone, übers. und hrsg. von Norbert Zink, Stuttgart 1981, Vers 332f.
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