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Größe und Nichtigkeit des Menschen

12. Juli 2024

Humanität und Humanismus sind keine Entdeckungen der Neuzeit. Ihre Prinzipien werden bereits in der Antike definiert.

 

Der Mensch vor Zeus

Zuerst, so sagt man, sei das Getier von Gott erschaffen worden und wurde einem jeden seine Qualität verliehen, dem einen Stärke, dem zweiten Schnelligkeit, dem dritten Flügel. Der Mensch aber stand nackt da und sagte: »Mich allein hat man ohne Gnadenerweis gelassen!« Doch Zeus antwortete: »Du hast bloß kein Gefühl für deine Gabe, obgleich dir die größte zufiel; denn du hast die Vernunft bekommen, die etwas gilt bei Göttern und bei Menschen, bist stärker als der Starke und schneller als der Schnellste.« Da erkannte der Mensch, was er erhalten hatte, betete an, dankte und entfernte sich.

 

Quelle: Antike Fabeln - Griechische Anfänge, Äsop, Fabeln in Römischer Literatur, Phaedrus, Babrios, Romulus, Avian, Ignatios Diakonos, hrsg. von Johannes Irmscher, Aufbau Verlag, Berlin 1991; S. 320

 

„Während Fürst Andrei dem Kaiser Napoleon in die Augen sah, dachte er an die Nichtigkeit menschlicher Größe und an die Nichtigkeit des Lebens, dessen Sinn und Bedeutung niemand begreifen kann, und an die noch größere Nichtigkeit des Todes, dessen wahres Wesen kein Lebender zu verstehen und einem andern zu erklären vermag.“

Die zweifellos schwierige Frage nach dem Wesen des Menschen, nach dem Sinn von Leben und Tod hat im Laufe der menschlichen Geschichte viele Antworten hervorgebracht, auch wenn sie zu keinem Zeitpunkt abschließend und verbindlich beantwortet werden konnte – und dies trotz zahlreicher religiöser Ideen, vieler philosophischer und künstlerischer Anstrengungen bzw. literarischer Einfälle. Die ersten Leitvorstellungen zur Bedeutung des Menschen bzw. zum Wesen des Menschlichen hat die vorchristliche Antike entwickelt. So definiert Protagoras im 5. Jahrhundert v. Chr. in seinem berühmten „Homo-Mensura-Satz“ den Menschen als das „Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht-seienden, dass sie nicht sind“2. Wie immer man diesen Satz deutet - und er ist vieldeutig -, rückt hiermit der Mensch in den Mittelpunkt von Betrachtungen und Überlegungen. Dennoch verstehen die Griechen den Menschen vom Göttlichen bzw. von der Abgrenzung gegen das Göttliche her, die Römer vom Menschen selbst her. Für die Griechen liegt die Größe des Menschen in seiner Teilhabe an der geistigen, göttlichen Sphäre, wofür etwa das berühmte erste Chorlied aus Sophokles Drama „Antigone“ (442 v. Chr.), das den Konflikt zwischen gesetzlichen, göttlichen und moralischen Gesetzen zum Thema hat, oder auch die oben zitierte Fabel des griechischen Dichters Babrios (wohl Ende 1. Jh. nach Chr.) mit dem Hinweis auf die göttliche Herkunft der Vernunft Zeugnis ablegen. Das Bemühen der Griechen, sowohl über die irdischen als auch über die politischen Bedingungen des Daseins hinauszugehen, könnte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass sich für die Begriffe Humanität und Humanismus keine Entsprechungen in ihrer Sprache finden.

Der Begriff des Humanismus, übrigens ein Begriff, der erst am Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt wurde, ist abgeleitet von den lateinischen Wörtern „humanus“ (menschlich) bzw. „humanitas“ („Menschsein“, „Menschenwesen“, „Menschlichkeit“) und impliziert Vorstellungen, die im 2. Jh. vor Chr. zunächst im Freundeskreis um den römischen Staatsmann und Feldherrn Scipio den Jüngeren um 130 v. Chr. erörtert wurden, bevor sie dann von dem bedeutenden Rhetor, Staatsmann und Schriftsteller Q. Tullius Cicero im 1. Jh. vor Chr. zu einer geistig-kulturellen Idee zur Vervollkommnung des Menschen erklärt wurden. In diesem Scipionenkreis, so der Altphilologe Eduard Norden, „begann sich die zivilisatorische Gemeinschaftsidee, wie sie von der jüngeren Stoa auf dem Grunde der ethisch-ästhetischen Kultur des Hellenismus ausgebildet worden war, mit römischer virtus [~ „Tugend“, „Tüchtigkeit“] und römischem Wirklichkeitssinne zu einer Einheit zu verbinden, die als humanitas einer der wichtigsten Kulturfaktoren zu werden berufen war.“3 Und auch das geflügelte Wort, das schon früher in einer Komödie des Terenz 163 v. Chr. fällt „Homo sum, humani nihil a me alienum puto“4, zeigt, dass die Humanitätsidee im Sinne von Toleranz und allgemeinmenschlichem Verstehen soziale Relevanz entwickelte. Hieran anknüpfend konnte Cicero den Humanismus zu einer am Menschen und seiner Würde als oberstem Maßstab ausgerichteten Form einer moralischen Lebensgestaltung erklären.

 bildung cicero

Quelle: DEZALB, via pixabay.com 

Gerade bei Cicero nimmt die Frage, was das Humane ausmacht, über mehrere Jahrzehnte seines öffentlichen Auftretens als Anwalt und Politiker, aber auch als Philosoph einen breiten Raum ein. Zum erklärten Ziel wird die pädagogische Erziehung zur Humanität („docebo profecto, quid sit humaniter vivere“5). Als er 25jährig in einem Strafprozess den wegen Vatermords angeklagten Sextus Roscius engagiert und mutig verteidigt (80 v. Chr.), wird die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs „humanitas“ sichtbar. Angesichts des in Rom tobenden Bürgerkriegs und der daraus resultierenden Grausamkeiten, denen zahlreiche Bürger zum Opfer gefallen sind und die viele Überlebende hat mitleidlos und stumpf werden lassen, spricht der Redner den Zuhörerinnen und Zuhörern ins Gewissen: „Denn wenn wir zu allen Stunden entsetzliche Ereignisse sehen oder hören, dann verlieren sogar wir, die wir von Natur aus sehr milde sind, durch die beständige Gegenwart des Leids allen Sinn für Humanität aus unserem Herzen“ (sensum omnem humanitatis ex animis amittimus).6 Wie sehr Cicero es daran gelegen ist, der inhumanen Praxis auch römischer Beamter deutliche Grenzen aufzuzeigen, wird in einem Schreiben an seinen Bruder Quintus um die Jahreswende 60/59 v. Chr. deutlich, in dem die Amtsführung in einer unterworfenen Provinz unter den Leitbegriff „humanitas“ gestellt wird. In diesem konkreten Fall rät Cicero seinem Bruder, der als Proprätor der Provinz Asia fungierte, sich am „größtmöglichen Glück der ihm Unterstellten“ (§ 24) zu orientieren und keine „Hartherzigkeit oder Grausamkeit“ zuzulassen, sondern überall „Milde, Sanftmut und humanitas“ („plena clementiae, mansuetudinis, humanitatis“) walten zu lassen7.

 bildung seneca

 Quelle: Mikewildadventure, via pixabay.com 

 

Zur Idee der Humanität gehören damit grundlegende Werte wie Mitleid, Milde, Güte, Mitmenschlichkeit, was sich etwa auch bei einem anderen großen Philosophen der Stoa zeigt, nämlich Seneca dem Jüngeren (1. Jh. n. Chr.), der in seinem berühmten Sklavenbrief seiner „Epistulae morales“ anrührende, ergreifende Worte findet, mit denen er Sklaven gegen die Einwände eines fiktiven Sprechers zu Menschen, Hausgenossen, Freunden erklärt, sich selbst angesichts der alle treffenden Willkür des Schicksals als Mitsklaven einbezieht und zu einem gütigen, liebenswürdigen Umgang mit den sozial Deklassierten mahnt.8 Aber der Bedeutungsumfang des Begriffs Humanität ist in der Antike mit diesen Hinweisen auf Mitmenschlichkeit und auf  Anerkennung der Gleichheit aller Menschen noch nicht ausgeschöpft. Gerade bei Cicero wird das humanistische Ideal eines freien und unabhängigen Menschen um die Bildung des Geistes bzw. ein durch Bildung kultiviertes Menschentum erweitert. Das Wort wird von Cicero sehr häufig in der Bedeutung »höhere Bildung«, »geistige Kultur« verwendet, wobei auch stets der soziale Aspekt (»vornehm-verbindliche Lebensart«) eine Rolle spielt. Es sind die Begeisterung für die Philosophie, die Bildung in den sog. Freien Künsten - wir würden heute vielleicht von Allgemeinbildung sprechen - und die Rhetorik, die für eine humane Lebensführung verbindlich gemacht werden. Die umfassende Bildung wird für Cicero zum Leitbild dessen, der seine Selbstverwirklichung im öffentlichen Wirken, in der Politik sucht. Im Ideal des „guten Menschen“ (vir bonus), aber besonders des Menschen, der in die Öffentlichkeit hinein wirkt (orator), sollten Weisheit, Menschlichkeit, Beredsamkeit und Vernunft (sapientia, humanitas, eloquentia, ratio) eine unauflösliche Verbindung eingehen.

Ethisches Verhalten und intellektuelle Bildung neben Herzensbildung – welch ein Anspruch an den Menschen! Wenn Cicero diese Ansprüche unter den einen Begriff „humanitas“ subsumieren kann, so setzt das nicht nur seine Einsicht in die prägende Kraft der Bildung voraus, sondern drückt auch seine Hoffnung auf ein Menschsein aus, das sich nicht in den Niederungen des Egoismus, der Gewaltorgien und des Irrationalismus verliert. Die Geschichte ist leider nicht zum Beweis für die Kraft der humanistischen Idee, sondern bis in heutige Zeit vielmehr Beleg für eine „chronique scandaleuse“ geworden, die kein happy end kennt. Das humanistische Denken als Grundlage von Besonnenheit und Vernunft, von wertorientierter Säkularität und Rechtsstaatlichkeit, von Demokratie und Menschenrechten sollte aber keine Utopie bleiben.

Hans-Jürgen Blanke

 

Quellenangaben

1 Leo N. Tolstoi: Krieg und Frieden. Paul List Verlag, München 1953 (übersetzt von Werner Bergengruen), Seite 377.

2 Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg.): Fragmente der Vorsokratiker 80B1 = Platon, Theaitetos 152a.

3 Norden, Eduard: Römische Literatur. In: Einleitung in die Altertumswissenschaft, I. Bd., 4. Heft, S. 322f.

4 Terenz heaut. 77; Dt.: „Ich bin ein Mensch: Ich glaube, dass mir nichts Menschliches fremd ist.“

5 Cicero: Epistulae ad familiares, 7,1,5.

6 Cicero, Pro Sexto Roscio Amerino, 53,154. Vgl. zur gesamten Thematik die schöne Darstellung von W. Stroh: Der Ursprung des Humanitätsdenkens in der Römischen Antike“ – Vortrag an den Iden des März 1989 gehalten vor der Goethe-Gesellschaft [pdf].

7 Cicero: Epistulae ad Quintum fratrem, 1,8,23.

8 Vgl. Seneca, ep. mor. 47.

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