Über Arbeit als „Gottesarbeit“ oder die Misere der Mittelmäßigkeit
In einer Gesellschaft, in der „Work-Life-Balance“, also das Gleichgewicht von Arbeits- und Freizeit und damit das vermeintlich harmonische Verhältnis zwischen beruflichen und privaten Verpflichtungen, zum Lebensideal erhoben wird, scheint der Begriff der Leistung nicht nur an Bedeutung zu verlieren, sondern zum Unwert zu verkommen. Die Folgen dieser Entwicklung sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen – Ökonomie, Bildung, Forschung, Schule, Sport – unübersehbar. Denn, was immer klarer vor Augen tritt, ist ein Status der Mittelmäßigkeit, vielleicht sogar unter dem besonderen Blickwinkel einer deutschen Mittelmäßigkeit.
Was bedeutet Mittelmaß bzw. Mittelmäßigkeit? Diese Frage scheint sich gerade in einer Zeit zu stellen, in der einerseits permanente Evaluationen, Rankings, Noten, Bewertungen und „Top Performer“-Programme alltäglich geworden sind, in der andererseits Klagen über den verheerenden Einfluss des Internets und digitaler Medien auf das Lern- und Sprachverhalten junger Menschen, über enttäuschende Schul- bzw. Leistungsvergleichsresultate und über die internationale Kritik an fehlender wirtschaftlicher Dynamik bzw. an deutscher Reformunfähigkeit unüberhörbar geworden sind. Ohne jedoch den ökonomischen Aspekt des Mittelmaßes außer Acht lassen zu wollen, muss dem Phänomen des intellektuellen Mittelmaßes das größere Interesse gelten. Kritisch zu hinterfragen ist, inwieweit der Verlust an intellektueller Tiefe dem Mittelmaß bzw. der Mittelmäßigkeit den Weg ebnet. Auch wenn Mittelmäßigkeit heute ein gesellschaftliches Reizthema ist, das je nach Kontext positiv (als Befreiung vom Leistungsdruck), negativ (als Ausdruck von Trägheit) oder ironisch (als bewusste Pose) besetzt ist, ist sie in einer Zeit zwischen Selbstoptimierung, Erschöpfung und Sinnsuche als Frage nach dem „Recht auf Mittelmaß“ durchaus aktuell – und politisch.
Mittelmaß bzw. Mittelmäßigkeit bezeichnet dasjenige, was zwischen zwei Extremen liegt und von ihnen gleich weit entfernt ist, ein Ort zwischen Groß und Klein, Unendlich und Begrenzt, Vollkommen und Unvollkommen, wahrscheinlich auch zwischen Gut und Böse. Mittlere Plätze gibt es im Sport, man kennt sie aus den diversen Hitparaden, die mittlerweile alle Lebensbereiche erfassen wollen, und nicht zuletzt findet man sie in der Schule in Form von Tabellen vor, in denen sich scheinbar objektiv der Ertrag von unterrichtlichen Leistungen ganzer Klassen, Kurse und Jahrgänge widerspiegelt. Wie der Begriff aussagt, handelt es sich also um ein Verhalten, das ganz von der Perspektive eines mittleren Niveaus bestimmt ist, nichts zu viel, nichts zu wenig. Auf den ersten Blick scheint einem solchen Verhalten nichts Schlechtes anzuhaften. Man kann zufrieden sein, wenn man zwar auf der einen Seite nicht für gute und überdurchschnittliche Leistungen gelobt, aber auf der anderen Seite auch nicht für unterdurchschnittliche Arbeiten und damit für mangelnden Fleiß und vielleicht sogar für fehlende Erkenntnisfähigkeit kritisiert wird. Ganz ohne Anstrengung ist wohl auch das Mittelmaß nicht zu erreichen und zu halten. Das beweisen nicht nur die mittleren Noten in der Schule. Eine Schwierigkeit kommt noch hinzu: Man kann als Schüler bzw. Lehrer in seinem Beruf hervorragend sein und doch mittelmäßig sein. Man kann auch nicht behaupten, dass in allen Berufen Mittelmäßigkeit herrscht, z.B. braucht ein guter Zimmermann nicht mittelmäßig in seiner Arbeit zu sein, doch er könnte es in seinem täglichen inneren Leben, seinem Familienleben sein. Mittelmäßigkeit zeigt sich zum einen als mittlerer Wert auf den Skalen von Leistungsfähigkeit, Kreativität, Engagement, zum anderen aber als eine psychische Kategorie, nämlich von innerer Mittelmäßigkeit, die sich in geistiger Armut niederschlägt, in der Unfähigkeit, den ideellen Reichtum von Welt und Menschen wahrzunehmen, und in der Unfähigkeit, über das kleine Ego hinauszuschauen und sich mit mehr und anderem zu befassen als der eigenen Person. Wer nicht den breiten Pfad mittlerer und durchschnittlicher Erwartungen verlässt, einen Pfad, der von vielen ausgetreten wurde und auf dem viele nachfolgen werden, scheint eine Garantie für ein abgesichertes und materiell sorgenfreies Leben zu haben. Nichts regt auf und gefährdet diesen Weg, nichts trägt zur Beschleunigung bei, nichts verändert sich oder wird verändert. Oft wird diese Haltung theoretisch unzureichend abgesichert mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, in allem Maß zu halten und die Extreme zu vermeiden, um im vermeintlich christlichen Sinne die Tugend der „temperantia“, zu deutsch: „Mäßigung“, oder im philosophischen Sinne die Tugend der „aurea mediocritas“, zu deutsch: der „goldenen Mitte“ (vgl. Horaz, Oden II, 10, 5) zu realisieren. Beide Vorstellungen haben mit der Untugend der Mittelmäßigkeit nichts gemein, sondern dienen als moralische Grenzpfähle für menschliches Denken und Tun.
Viele Indizien sprechen dafür, dass wir einen gesellschaftlichen Zustand erreicht haben, der durch Stillstand, Entwicklungsstopp und Bewegungslosigkeit gekennzeichnet ist. In vielem scheinen wir uns in Deutschland auf ein Mittelmaß eingependelt zu haben. Wahrscheinlich handelt es sich um einen bereits lange währenden Prozess der Erosion, durch den zentrale Werte wie Arbeit, Leistung, Idealität des Strebens vernichtet wurden. Wenn man nach den Ursachen dieses schleichenden und immer noch virulenten Prozesses fragt, wird man sich mit ausschließlich einer Antwort nicht begnügen können. Schon seinen Beginn wird man nur unbestimmt andeuten können. Er liegt vielleicht in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts und hängt mit problematischen Entwicklungen, die hier ihren Ausgang genommen haben, zusammen. Zu denken ist u.a. an die Einrichtung der Gesamtschulen, die auf der Vorstellung basieren, dass Gleichheit und Elite einander ausschließen und deshalb zugunsten vermeintlich gleicher Bildungschancen, aber zu Lasten angemessener Leistungsstandards und qualifizierter Schulabschlüsse Gescheite wie Dumme durch die Schule geschleust hat. Die zersetzende Wirkung dieses Denkens machte an keiner Bildungseinrichtung halt. Der Preis dieses Weges wird an den Rändern erkennbar, bei den Besten, die unterfordert, und bei den vielen, die überfordert sind, eine Beobachtung, die man seit langem auch an den Gymnasien machen kann. Neben dem Niveauverlust an schulischer Bildung, der Abwertung aller Schulabschlüsse, der Gefährdung der einst hochangesehenen deutschen Wissenschaftsstandards und der Geringschätzung von Handwerksleistungen muss man mindestens noch auf eine weitere Ursache der Misere der Mittelmäßigkeit verweisen. Diese ist in der Macht und in dem Charakter der heutigen Massenmedien begründet, die einen verführerischen, ja korrumpierenden Einfluss auf die Gesellschaft ausüben. Insbesondere seit Entstehung privater Medien, z.B. von RTL, gestartet am 2.1.1984, muss man beinahe von einer Diktatur des Mittelmäßigen sprechen, die das Niveau drückt, um immer mehr das Massenpublikum anzusprechen und die Menschen durch Seichtigkeit, Anspruchs- bzw. Geschmacklosigkeit und Unterhaltungsmüll zu verbilden. Das Mittelmäßige ging letztlich bei den Privaten wie bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten in Serie, wie dies sich an zahllosen Unterhaltungssendungen, deren Namen zu nennen sich erübrigt, nachweisen lässt. Die digitalen Medien leisten der Verbreitung von Banalitäten noch einmal verstärkt Vorschub und tragen gehörig dazu bei, Lebenszeit an Unwesentliches zu veräußern. Die Auswirkungen sind fatal. Leistungswille schlägt um in Leistungsverweigerung, Bewusstsein für die Notwendigkeit, Leistungsgrenzen auszutesten und auszuschöpfen, geht über in egalitäre Kritik an allem, was sich nicht den eingeebneten gesellschaftlichen Normen anpasst, das Essenzielle gerät gegenüber dem Banalen, Trivialen und Geistlosen ins Hintertreffen, bedeutsame Größe verkommt zum langweiligen Mittelmaß. Die Freizeit- und Spaßgesellschaft feiert fröhliche Urstände.
Diese Form der Mittelmäßigkeit, das Sich-Einschwören auf den veränderungslosen Zustand einer Zufriedenheit, die nur den breiten Weg selbstgefälligen materiellen Besitzes kennt, nicht aber mehr unerbittliches Streben nach Zielen, die jenseits des Erreichten und zu Bewahrenden liegen, ist das, was aller Orten die Menschen paralysiert. Mittelmäßigkeit als Lebensform im weitesten Sinne bedeutet nämlich, dass das Leben durch das beherrscht wird, was sich systematisch, regelmäßig wiederholt, durch das, was turnusgemäß wiederkehrt, durch das, was getan werden muss ohne Rücksicht auf unser inneres Engagement und unsere innere Bereitschaft, selbstgezogene oder von außen gesetzte Grenzen zu überschreiten. Die Welt des Mittelmaßes ist vor allem bestimmt durch das Moment der Ruhe. Ruhe, Ordnung, Regelmäßigkeit und Ausgeglichenheit der Lebensverhältnisse und Lebensansprüche bergen eine Gefahr in sich, der jener, den man Mittelmaß nennt, erlegen ist, die Gefahr der Enge. Gerade die Schule ist zu einem Hort des Mittelmaßes geworden. Die platteste Mittelmäßigkeit ist obenauf und erstickt jeden Drang nach Neuerung bereits im Keim. Mittelmäßige Lehrer bzw. Lehrerinnen und mittelmäßige Schüler bzw. Schülerinnen geben sich mit dem zufrieden, was ohne größere Anstrengung zu erreichen ist, ohne dabei sich oder anderen wehtun zu wollen. Entsprechend ironisch beschreibt der dänische Philosoph Søren Kierkegaard die Misere der Mittelmäßigkeit:
„Gegenseitig zueinander sind die Einzelnen der Mittelmäßigkeit gewiß nicht unbescheiden, machen sich keiner Unverschämtheit schuldig, sie respektieren ja gegenseitig ihre Mittelmäßigkeit.
Aber dieser gleichzeitigen Mittelmäßigen, der ganzen Mittelmäßigkeit Masse oder die Mittelmäßigkeit en masse ist eine Unverschämtheit gegen Gott, denn sie will sich aufwerfen, das Höchste zu sein, will sich aufwerfen zum Ideal. Wie man ein-ander gegen Feuer versichert, so will die Mittelmäßigkeit total die Einzelnen in der Mittelmäßigkeit sichern, daß die Mittelmäßigkeit das Wahre sei.“ (S. Kierkegaard, Die Tagebücher 1834-1855. Ausgewählt und übertragen von Theodor Haecker, München 31949, S. 589f)
Die Gesellschaft einschließlich ihrer vielen Untergliederungen ist in vielerlei Hinsicht durch ein Netzwerk von Mittelmäßigkeit, Manipulation und schnelllebigen Moden blockiert. Das Mittelmäßige hat Konjunktur und hisst siegreich an vielen Orten die Fahne. Vor dem Mittelmaß, das zur Herrschaft gelangt ist, ist keine Größe sicher. Mittelmäßig bleiben zwangsläufig die Anstrengungen, dieser Krise zu entkommen. Man nimmt die Defizite wahr, ohne ihnen entschieden entgegenzuwirken, weil der gesamtgesellschaftliche Wohlstand immer noch beträchtlich ist und die Vorteile die Nachteile überwiegen. Die Handlungsunfähigkeit der großen Parteien angesichts des politischen Patts, die langanhaltende ökonomische Krise, der nur schleppende Umbau des Sozialstaates, die lähmende Passivität im staatlich alimentierten Bildungswesen, das keine Antwort findet auf die offenkundigen Missstände an Schulen und Universitäten, der schwindende Einfluss der Kirchen auf soziale Prozesse sind dabei nur vordergründige Indikatoren der weitaus tiefersitzenden Krise. Die Politik kann bessere Rahmenbedingungen schaffen, bessere Ausbildungsbedingungen für Schüler, verbesserte Studiengänge, bessere Lehrer. Aber das berührt nicht den Kern des Problems. Mittelmaß kann man nicht durch die Veränderung von Rahmenbedingungen beseitigen.
Das Kernproblem, das nicht nur die Situation in der Schule, sondern in der gesamten Gesellschaft bestimmt, lässt sich an einer kleinen chassidischen Geschichte verdeutlichen:
Rabbi Jehuda erzählt, wie er zu Rabbi Jischmael kommt und dieser ihn nach seiner Beschäftigung fragt. Er erwidert, er sei Toraschreiber. Da habe jener zu ihm gesagt: Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn sie ist eine Gottesarbeit; wenn du nur einen Buchstaben auslassest oder einen Buchstaben zu viel schreibst, zerstörst du die ganze Welt. (Babylonischer Talmud, dt. v. L. Goldschmidt, II 35).
So unscheinbar die kleine Geschichte ist, sie steckt voller Weisheit und Erkenntnisse, die sich auf die heutige Zeit übertragen lassen. Arbeit, dies gilt besonders für solche, die auf Sprache basiert, ist „Gottesarbeit“. Ihre Zielsetzungen erschöpfen sich nicht in einer materiellen Dimension, sondern verlangen ein ideales Streben und versprechen Erkenntnisse, die dem Leben Form und Ordnung geben. Arbeit, die als „Gottesarbeit“ begriffen wird, ist radikal; sie verlangt den ganzen Menschen, seine ungeteilte Aufmerksamkeit, sein volles Engagement. Fehlt die Genauigkeit, verfehlt er das Ziel, gefährdet er den Erfolg des Werkes. Sie geschieht in dem Bewusstsein, dass der Einzelne weitreichende Verantwortung zu übernehmen hat für das, was er leistet, und er sich - im Sinne Kierkegaards - wieder an metaphysischen Idealen orientiert.
Diese Arbeit ordnet und gestaltet das Leben, ohne dass sich das Leben in ihr erschöpft. Ihr ist alles Mittelmäßige fern, weil sie dem Menschen mehr abverlangt als eine stupide und vordergründige Jobmentalität. Vielleicht führt sie auch zur Einsicht, dass sich in der offenen Gesellschaft die natürlichen Ungleichheiten zwischen den Menschen wieder mehr entfalten sollten, die Unterschiede in den Begabungen, Talenten, physischen und geistigen Kräften. Man wird anerkennen müssen, dass zur Natur des Menschen nämlich auch das Bestreben gehört, sich vonein-ander zu unterscheiden, sich hervorzutun, anders und besser zu sein als der Mitschüler, der Nachbar, der Konkurrent. So müsste man sogar gegen Rousseau die These stellen, „daß das natürliche Streben der Menschen nach Ungleichheit stärker ist als ihr Streben nach Gleichheit“ (M. Schneider, Der Traum der Vernunft, Köln 2001, S. 447).
Mittelmaß darf nicht das Maß aller Dinge bleiben. Arbeit, die als eine Tätigkeit begriffen wird, die auf ideelle Vorstellungen rekurriert, kann sowohl in der Schule als auch in der Gesellschaft zu einer neuen Einstellung gegenüber dem Lernen und seinen Schwierigkeiten führen. Die Schüler oder auch die Lehrer, die ihre Arbeit nicht nur als panikartige Geschäftigkeit, als leeres Getue oder auch ausschließlich als Quelle für den Lebensunterhalt bzw. als Zwangsmittel, um mit geringstem Aufwand ein mittelprächtiges Ergebnis zu erzielen, verstehen, sondern als permanente Anstrengung, die schmerzvoll ist und oft auch vom Scheitern bedroht sein kann, die setzen die von der Natur gegebenen Talente richtig ein. Nur durch die ernsthafte Hingabe an Ziele, die einem nicht im Handumdrehen zufallen, kann sich der Mensch voll verwirklichen. Wir brauchen wieder mehr Menschen, die geistige Unruhe verbreiten, die Stein des Anstoßes sind und die auch dann weiterfragen, wenn schon erste Antworten gegeben sind und sich Zufriedenheit mit dem Erreichten einstellt. Um diesem Ideal nahezukommen, muss jeder Einzelne sich einen „Ruck“ geben – man denke hierbei an die Rede von Roman Herzog -, um mehr zu wollen als das, was gerade mal zufriedenstellend ist. Und auch Deutschsein darf und kann einmal wieder als Synonym für Leistung, hohen Standard und Orientierung am Weltniveau gelten. Ein weiter Weg liegt vor uns. Er lohnt sich.
H.-Jürgen Blanke
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