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Marc Chagalls Kunst zur Biblischen Botschaft

26. Juli 2024
Orientierungspunkte für gelingendes Leben

Eine zunehmende Komplexität und daraus resultierende Unüberschaubarkeit der Realität fragt nach einem Deutungsschema, welches die Wirklichkeit als geordnet und auf einen Sinn hin ausgerichtet erkennen lässt.

Die immens gesteigerte Bildung, die Emanzipationsbewegungen in unterschiedliche Richtungen, eine Individualisierungsentwicklung mit der Herausbildung immer kleinräumiger Milieus, eine umfassende Orientierung des Lebens an den Marktmechanismen von Konsum und Erleben sowie der Verlust an Bindungskraft von Traditionen und sozialen Strukturen haben unsere Wirklichkeit geprägt. Gemeinsam haben sie den Prozess beschleunigt, in dem eine Weltsicht des Theismus ihre fraglose Wirksamkeit eingebüßt hat. Orientierungslosigkeit und fehlende Durchschaubarkeit von Zusammenhängen führen immer stärker zu einem Gefühl der Fremdbestimmtheit. Unterschiedliche Instanzen nehmen tendenziell die Funktion wahr, Weltsicht und Handlungsorientierung zu normieren. Vornehmlich die Medien scheinen diese Aufgaben zu übernehmen. Sie geben vor, was man zu denken, woran man sich zu orientieren, wonach man sich zu sehnen, worauf man zu hoffen und wovor man sich zu fürchten hat. Dabei werden Moden und Trends ständig neu generiert und lösen sich in einer Spirale raschen Wechsels und ständig sich steigernder Attraktivität ab. Menschen benötigen, um ihren Lebensstil und ihre geistigen Grundlagen zu finden, immer stärker Orientierungsmarken, die ihnen helfen, ihr eigenes Konzept zu entwickeln. Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? - Diese Fragen verlangen plausible Antworten. Chagall findet diese immer wieder in der Biblischen Botschaft, der in Nizza ein eigenes Museum „Message Biblique Marc Chagall“ gewidmet ist. Dabei kann ihr kritisches Potenzial in dem Prozess der Wahrnehmung der Welt und der Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zur Geltung kommen. Die reiche biblische Tradition entfaltet ihre Kraft, Welt- Menschen- und Gottesbilder zu formen, nicht einlinig, sondern so pluralistisch, wie diese Bilder in der Bibel selbst Eingang gefunden haben.

In den Bildern der Bibel in all ihrer Vielfalt kommen Menschheitserfahrungen zum Tragen, die Perspektiven auf die Welt und das Leben formen, Mut geben, Hoffnung, Zuversicht, Vertrauen, Motivation und Einladung zur Liebe. Aus der Prämisse einer persönlichen Erschließung der biblischen Botschaft stehen Kontinuität von Erfahrungen im Vordergrund. Kontinuität ist so zu deuten, dass Glaube auf dem Verstehen dessen aufbaut, was die Menschen jetzt und hier bewegt und betroffen macht, wobei die gegenwärtige Daseins- und Wirklichkeitserfahrung im Blick auf Vergangenes und die Tradition zu einem tieferen Selbstverständnis geführt werden kann. Noch längst nicht sind die Schätze der biblischen Botschaft gehoben, ihre Traditionselemente noch nicht vollends fruchtbar gemacht für heutige aktuelle Zusammenhänge der Sinnorientierung und Weltbewältigung. Immer neu entfaltet sich ihr kritisches Korrektiv zu den vorherrschenden Festlegungen einer Zeit. Aus dieser Perspektive kann ein Weltentwurf und eine Daseinshaltung erwachsen, die den Menschen und der Welt zum Segen wird. Es geht darum, Ausdrucksformen anzubieten, die eine gelingende Integration von Erfahrungen - Fragen und Zweifel, Vertrauen und Hoffnung, Werte und Orientierungen - in das Ganze eines menschlichen Lebens und des Lebens der Gesellschaft ermöglichen. Gerade in einer Zeit der zunehmenden Individualisierung und des Rückzugs auf das ganz persönliche Glück kann es hilfreich sein, einen Platz in der öffentlichen Kommunikation für die Notwendigkeit des Hörens und Schauens auf die biblische Botschaft freizuhalten. Es wird von großer Bedeutung bleiben, die aus dieser Botschaft gewonnenen Einsichten der Gesellschaft vorzuschlagen, selbstverständlich nicht als hinzunehmende dogmatische Wahrheit, sondern als Gesprächsangebote in einem Diskurs, den zu führen für eine Gesellschaft überlebensnotwenig ist.

Marc Chagall kann mit seinen Bildern zur Biblischen Botschaft als ein wichtiger Angebotsträger in diesem Sinne verstanden werden.

Chagall vermochte es an allen Stationen seines Lebens, von der kärglichen Armut in seiner Kindheit über die Schrecken des Dritten Reiches bis hin zum Weltruhm, die lebendige Stimme der Bibel (im christlichen Sinn: das Alte Testament) wahrzunehmen, und er verstand es, sie zur Richtschnur seines Lebenslaufes zu machen. Seine Bilder schaffen einen Referenzsystem, das von der mehrtausendjährigen Geschichte des Volkes Israel bis in die Gegenwart des Künstlers und somit auch in unsere reicht. Auf diese Weise findet jede biblische Aussage eine bildhafte Übersetzung, nicht zu verstehen als einfache Illustration, sondern schon als Interpretationshilfe im jeweiligen Erfahrungskontext. Darauf bezieht sich auch der Künstler selbst in seine Eröffnungsrede zur Message Biblique Marc Chagall in Nizza:

„Ich habe mich auf das große, universelle Buch, auf die Bibel bezogen. Seit meiner Kindheit hat sie mich mit der Vision des Weltschicksals erfüllt und mich bei meiner Arbeit inspiriert. Wenn ich zweifelte, hat mich ihre Größe und hoch poetische Weisheit beruhigt. Sie ist wie eine zweite Natur für mich. Ereignisse im Leben und Kunstwerke sehe ich durch die Weisheit der Bibel. Ein wahrhaft großes Werk ist durch ihren Geist und ihre Harmonie geprägt.“1

An anderer Stelle heißt es:

„Die Bibel schien mir – und scheint mir heute noch – die reichste poetische Quelle aller Zeiten zu sein. Seither habe ich ihr Abbild im Leben und in der Kunst gesucht. Die Bibel ist wie ein Nachklang der Natur, und dieses Geheimnis habe ich weiterzugeben versucht…In der Kunst wie im Leben ist alles möglich, wenn es auf Liebe beruht.“2

Für Chagall ist die Bibel nicht ein antikes, überholtes Kulturdokument aus dem Vorderen Orient, das Wort Gott nicht nur eine leere Sprachhülse und der Mensch kein ausschließlich von gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Kräften bestimmtes Wesen. In der Bibel erschließt sich seine eigene Geschichte, die Geschichte seines Volkes und der ganzen Menschheit. Diese biblische Überlieferung ist für Marc Chagall Quelle, normatives Ursprungsdokument und Korrektiv des Glaubens. Daneben gibt sie fundamentalen Sachverhalten eine inspirierende Deutung und kann so den Menschen zu einer Horizonterweiterung, vielleicht sogar zu einer Horizontveränderung verhelfen. In einem Vergleich ausgedrückt ist die biblische Botschaft die Flamme des Glaubens, die Licht spendet, aber nur mit dem von der Gegenwart gespendeten Sauerstoff. Biblische Botschaft will nicht nur gelesen oder wahrgenommen, sondern gelebt werden. Das bedeutet, dass nur durch die hermeneutische Deutung der historisch gebundenen biblischen Sprache der Geist hervorgehen kann, der einst in der Vergangenheit in sie eingegangen ist. Denn was ist die biblische Botschaft anderes als die Geschichte von Menschen mit ihrer Lebenswirklichkeit und den dazu gehörigen Fragen. und den  

Doch derartige Erfahrungskompetenz lässt sich nicht einfach rational und autoritativ vermitteln. Diese Erfahrungen wollen in einer ihrer Ursprungssituation und ihren Entstehungsprozess darlegenden Weise vermittelt werden.

Die Biblische Botschaft wird zum Mittelpunkt von Chagalls Lebenswerk3 und keineswegs nur im dürren Gerippe des Wortes bzw. im abstrakten Gewand des Dogmas. Im farbsprühenden Facettenreichtum der Spektralfarben versteht er es, die lebendige Stimme der Bibel wahrzunehmen und sie in seinen Lebenslauf einzugeben. Chagalls Kunst ist und schafft Wirklichkeit, die sein bedeutendes Anliegen transportiert, den Ursprung des Menschen in Verbindung mit einer schöpferischen Verheißung aufzuzeigen. Marc Chagall wird zu einem Vermittler zwischen dieser Verheißung und der Existenz des Menschen in der Zeit.

 

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Quellenangaben

1 Schmalenbach, Werner / Sorlier, Charles (Hrsg.): Marc Chagall, S. 193.

2 Ibid., S.187 und 190.

3 Nach dem Erscheinen der Radierfolgen „La Bible“ (1956/57) erweitert sich das biblische Werk in den darauffolgenden Jahren um Farblithografien, Tuschezeichnungen sowie Gouachen und die großformatigen Bilder der Message Biblique in Nizza mit all Ihren Vorstudien. Im Anhang befindet sich eine Übersicht der Werke zur Biblischen Botschaft.

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